Plädoyer: mündliche Weitergabe

Ungefähr einmal im Monat möchte ich euch etwas zur Geschichte rund um der  Vintschger Typenlehre herum eingehen. Sie ist ja Bestandteil eines Weltbildes, das mündlich überliefert wurde und genau darauf werde ich heute genauer eingehen.

Meine Großmutter hat mir erzählt, dass ihre Oma, die ihr wiederum mündlich dieses Wissen weitergegeben hat, gar nicht Lesen und Schreiben konnte. Das Argument der Ignoranz, weil die schulische Bildung fehlte, tat ein Übriges dazu, um jegliches Wissen dieser Art lange zu diskreditieren – für meine Ahninnen war es aber auch die Möglichkeit, ihr Wissen erfolgreich zu verstecken, um “es ins Heute zu bringen”. Darum ging es nämlich meinen Ahninnen: Es in eine Zeit zu retten, an dem es nicht mehr so gefährdet war.

aus dem Buch: Die Vintschger Typenlehre. Sich selbst und andere besser verstehen, 2011

Während in unserer Kultur die schriftliche Weitergabe oft die mündliche Überlieferung verdrängt hat, auf alle Fälle die erste viel wichtiger als die zweite eingestuft wurde, ist dank ihr wichtiges Wissen erhalten worden – ob nun bezüglich der Hausapotheke, der Kräuter, der Hauswirtschaft, der Handarbeit, aber auch der Sagen, die noch von einer Zeit stammen, in der z. B. Frauen eine ganz andere als die von Christen- und Bürgertum zugedachte Rolle besaßen.

Auch die Art und Weise der Überlieferung unterscheidet sich von der schriftlichen. Vor allem, wenn sie mit Weltanschauungen und Glauben verbunden ist, wird sie mit  Ritualen verbunden. Mit nonverbalen Handlungen – wie z.B. dem Aufstellen eines Christbaumes, dem Räuchern am 6. Januar, dem Feiern der Lichtmess, etc. – wird es leichter ins Gedächtnis geprägt. Das Verpacken in Liedern, also verbunden mit einer Melodie, ist eine weitere Art, mündliches Wissen zu erhalten.
Meine Oma hat oft Assoziationen verwendet, um Bilder zu schaffen, an die ich mich leichter erinnern kann. Dabei hat sie sich oft an meine Welt angepasst. So hat sie z. B. das Beispiel des Puzzle verwendet, obwohl sie noch nie in ihrem Leben Puzzle gespielt hat. Ich aber gerne. Damit hat sie mir etwas sehr Wichtiges erklärt, auf das ich gerne ein anderes Mal genauer eingehen werde…
Aus der Volksheilkunde kennen wir die Sprichwörter und Reime, mit denen Weisheiten weitergegeben wurden. Berühmt sind natürlich die Besprechungen von Warzen oder das Blutstillen.

 

So langsam werden die Vorteile dieser Art des Weitergebens wieder erkannt. Ich selbst bin seit Jahren eine große Befürworterin und unterstütze den Wert der mündlichen Weitergabe mit Ausstellungen, Vorträgen und Büchern.

Hier möchte ich euch nochmals die Merkmale der mündlichen Weitergabe aufzählen:

  • ein Gedankengang oder eine komplizierte Erklärung kann nie genau gleich wiederholt werden,
  • das Wissen besteht darin, was die Menschen im Gedächtnis haben
  • und das Wichtigste überhaupt: Es braucht einen Gesprächspartner, um das Wissen zu teilen und sich selbst das eigene bewusst zu machen.

aus dem Buch: Die Vintschger Typenlehre. Sich selbst und andere besser verstehen, 2011

Diese Weitergabe erfordert Vertrauen und darum Beziehung. Sie erfordert Respekt gegenüber der wissenden einerseits, Offenheit gegenüber der lernenden Person andererseits.
Frauen sind seit jeher für Beziehung zuständig und darum auch die Meisterinnen darin. So wird auch klar, dass die mündliche Weitergabe vor allem Frauen oblag und -liegt. Das hat zum einen dazu geführt, dass sie lange als “geschichtslos” galten, zum anderen, dass diese Art von Wissen als nicht so wertvoll erachtet wurde und damit zum Vorurteil der Geschichtslosigkeit von Frauen erst führte. Tatsache ist, dass es lange Zeit eine Nische war, die den Frauen nicht genommen wurde und auch nicht genommen werden konnte. Das gilt auf alle Fälle für das von mir ererbte Wissen.

Wie meine Oma schon sagte: Alles hat zwei Seiten wie eine Medaille. Wir wurden darauf reduziert, aber das macht uns auch gut darin. Und dass ein gutes Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden eine optimale Basis für die Aufnahmefähigkeit schafft, ist wahrlich nichts Neues, oder?

Auf das Gegenüber eingehen und die Wertlegung auf die Kommunikation, darin liegt auch die Stärke der mündlichen Weitergabe. Du kannst den Schüler oder die Schülerin genau da abholen, wo er/sie steht. Meine Oma hat das getan und vor ihr ihre Großmutter, die es wiederum von ihrer so erhalten hat. Und die Vintschger Typenlehre ist im Kontext der mündlichen Weitergabe zu sehen. Es braucht die Beobachtung mit allen Sinnen, aber nur im Austausch miteinander und mit dem Vergleichen der Beobachtungen wird man gut darin, den Typ vor sich zu erkennen.

Auch sonst hat die Vintschger Typenlehre Elemente, die oft bei einer mündlichen Weitergabe zu finden sind. So hat man z. B. keine Sicherheit, dass man sich selbst und andere genau erkennt. Kein Geburtsdatum oder sonst etwas, an das man sich festhalten kann.
Und es gibt auch nicht auf alle Fragen eine Antwort. So z. B. weiß ich nicht, wieso man als solcher Typ auf die Welt kommt und wieso man im Laufe des Lebens nicht den Typ ändern kann. Die Antwort meiner Oma darauf war einfach:

„Es ist einfach so. Die Kopfeten müssen immer auf alles eine Antwort wissen. Der Roggen auf dem Feld ist auch schon gewachsen, bevor er wissenschaftlich untersucht worden ist, die Kinder sind auf die Welt gekommen, bevor man genau wusste, wie die Zeugung zustandekam.“ Damit zwinkerte sie mir zu und für sie war es gegessen.

Die Weitergabe der Vintschger Typenlehre war ja auch eine Sache für sich. Von Großmutter zur Enkelin, von Vollmond zu Neumond und wieder zu Vollmond.
Wieso das so eingerichtet wurde? Ich weiß es nicht. Irgendeine Gefahr habe eine Ahnin dazu veranlasst, das Wissen zu schützen.
Wieso ich? Weil man in der Wiege schon eine Hirtin erkennt. Aha (?).
Wahr ist, hätte die Weitergabe nicht so stattgefunden, wäre das Wissen höchstwahrscheinlich nicht mehr da. Im konservativen Vinschgau waren die letzten paar hundert Jahre so etwas bestimmt nicht gefragt. Ein anderes Mal erzähle ich euch die Geschichte von der “Wibmer-Sekte” …

Natürlich habe ich Einiges vergessen, was mir meine Oma beigebracht hat – wie auch sie und ihre Ahninnen vorher. Aber ich verstehe jetzt die Gelassenheit, denn es geht bei der mündlichen Überlieferung nicht darum, ALLES zu behalten.
Es geht nicht um die Gesamtheit und auch nicht um die Ursprünglichkeit des Wissens.

  • Du nimmst auf und erinnerst.
  • Was du erinnerst, interpretierst du auf deine Weise, mit deinem Horizont.
  • Du ergänzt es mit deinen Erfahrungen und
  • gibst das Neue Alte wieder weiter.

Das ist eine Aufgabe von Kontrolle, von Richtig und Falsch – es ist eine Weiterentwicklung, ein work in progress ohne Ende.
Die Wissenschaft bezeichnet das als strukturelle Anamnese und erklärt es damit, dass das Gedächtnis eines Menschen eine gewisse Kapazität hat, darum wird für die Gegenwart nicht relevantes Wissen ausgeschieden. Aber es ist so viel mehr… Es fällt was weg, aber es kommt auch wieder sehr viel Neues dazu, es ist immer authentisch mit den Lebenserfahrungen der Person verbunden, die das Wissen weitergibt und wird ständig erweitert, “modernisiert”, den gegenwärtigen Lebenssituationen angepasst…

Durch die Beziehung, durch den Prozess, sich selbst mit seinem Horizont und seinen Erlebnissen einzubringen, kann die empfangende Person auch dieses Wissen besser verinnerlichen, wenn auch nicht so strukturiert wie bei der Schrift. Und damit besser im Leben umsetzen.

aus dem Buch: Die Vintschger Typenlehre. Sich selbst und andere besser verstehen, 2011

Jetzt werdet ihr euch fragen, ob ich nicht ein lebender Widerspruch bin. Gerade ich bin Autorin geworden und schreibe v.a. gerne mündlich überliefertes Wissen nieder, damit es nicht verloren geht.

Nun, ich erhebe keinen wissenschaftlichen Anspruch, das ist das eine – und ich leugne nicht, dass bestimmte Qualitäten dabei verloren gehen.

Vielmehr plädiere ich dafür, dass das eine neben dem anderen existiert und seine Berechtigung hat. Mündliche Weitergabe kann nicht durch schriftliche Weitergabe ersetzt, nur ergänzt werden. Was solide Ausbildungen nicht diskreditieren soll, aber ich persönlich gebe ihnen nicht das bisherige alleinige Monopol, das sie die letzten Jahrhunderte hatten.

Es geht mir um ein Plädoyer für die Aufwertung der mündlichen Weitergabe und des damit verbundenen Wissens. Weil es nicht immer um Ausbildung und Titel geht, sondern schlicht und einfach darum, dass die Person weiß, was sie tut und jeder das sehen und erfahren kann – ob das nun fantastisch kochen, Kräuter erkennen und anwenden, handwerkliche Meisterwerke zaubern oder Flachs brechen ist, die Kenntnis um den magischen Teil der Volksmedizin oder das geistige spirituelle Erbe, das ich von meiner Oma erhalten habe…

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